Vertreibungsberichte
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Ursel Jahn
Georg Meilahn

Die Vertreibung aus der Heimat

 

von Ulrich Reinke

 

Die Vertreibung begann in Etappen. Schon Mitte Mai verkündeten die Polen: „Die Oder ist Grenze, alle Deutschen haben das Grenzgebiet auf eine Tiefe von 8 km zu verlassen.“ Wir glaubten ihnen nicht. In einzelnen Dörfern wurden die Bewohner kurzfristig herausgejagt – doch die Russen scheuchten die Polen und schickten die Leute wieder zurück, dieses Spiel wiederholte sich mehrmals. Die Russen wurden so zu Beschützern der deutschen Bevölkerung. Aber es kam wie in Stettin, die Polen setzten sich durch. „In 20 Minuten alle Deutschen raus“, hieß es dann auch in Rörchen. Wer sein Anwesen nicht verlassen wollte, wie die von Hugenotten abstammende alte Müllersfamilie Henry, denen gab man einen Spaten und befahl ihnen, ihr Grab selbst auszuheben. Als Tote hätten sie bleiben dürfen. Wer sein Haus nicht verlassen wollte, wurde einfach hinausgeprügelt.

 

Sie zogen aus, arm wie die Kirchenmaus, geschunden an Leib und Seele. Und immer noch nahmen die Plünderungen kein Ende. „Opa, du hast einen feinen Ring“ sprach der Pole zu dem über 80 Jahre alten Tischlermeister Alms – und ehe der alte Mann sich besinnen konnte, war der Ring in der Tasche des Ganoven verschwunden. Es war der Abschaum eines Volkes, der in dem pommerschen Lande 1945 sein Unwesen trieb.

 

Ende Juni, Anfang Juli, mag es gewesen sein, eine genaue Zeitrechnung hatten wir nicht mehr, da kamen sie. In lang gezogener Reihe, die Köpfe tief gebeugt, es waren wohl einige tausend Frauen, Kinder und greise Männer, die auf der Chaussee am Püttkrug vorbei nach Süden, der Oderbrücke zu, getrieben wurden. Man hörte förmlich ihre schlürfenden Schritte und konnte erahnen, wie viel Verzweiflung, Not und Hunger mit ihnen zog. Was ihnen als Besitz noch verblieben war, schleppten sie in Beuteln, Taschen und Rucksäcken mit sich – es war nicht mehr viel –, nur wenige hatten ein Handwägelchen oder einen Kinderwagen. Für manche Mütter waren nur noch die Kinder der einzige Besitz. Was hatten sie in den vergangenen Wochen schon alles erleben müssen? Das Ende des Elendszuges bildete ein Panjewagen, auf dem man wohl einige Schwerkranke verfrachtet hatte. Und das schlimmste: Rechts und links wurden sie eskortiert von polnischer Miliz mit aufgepflanzten  Bajonetten. Es war ein Anblick, der mir zeitlebens im Gedächtnis bleibt. Mit Ohnmacht, Wut und Trauer zugleich sah ich sie vorüberziehen – und konnte nicht einmal fragen nach dem Woher. Später hörten wir: „Das waren die Gollnower“.

 

Und dann kommt 40 Jahre später ein Vertreter unseres Staates und spricht von einer „erzwungenen Wanderung“ – so kann Geschichte selbst von einem Angehörigen der Kriegsgeneration verfälscht werden.

 

In den folgenden Tagen und Wochen waren es die Bewohner anderer Städte und Dörfer, die in ähnlicher Weise vertrieben wurden. Jetzt war auch für uns die Zeit zum Handeln gekommen. Was war zu tun? In der sowjetischen Zone wurde noch verhaftet, die Konzentrationslager gefüllt. Also noch bei den Russen bleiben. Als das Kommando nach Finkenwalde-Podejuch verlegt wurde, ging ich mit.

 

Für Gustav, meinen „Untermieter“, war die SBZ wegen seines Alters keine Gefahr. Er sollte rübergehen, ich würde später nachkommen. Für ihn wurde eine Kutsche auf dem Hof von Konrad Lenz gefunden, die Rücksitze abmontiert, ein Kartoffelsack mit seiner Habe aufgeladen, für alle Fälle noch ein Schubkarren dazu, das Pferd vorgespannt und Gustav fuhr in aller Frühe ab. Er war wohl der einzige Pommer, der seine Heimat zum 2. Mal wohlhabender verließ als er gekommen war. Bis Stettin-Scheune ging noch alles gut, dann kam er in die berüchtigte Zentrale der Räuber, sie holten ihn von den Wagen, beschlagnahmten alles für den Kommandanten – der fuhr jetzt mit der Kutsche – und ein alter Mann schob seinen Karren in eine ungewisse Zukunft.

 

In Finkenwalde-Podejuch war die Zementfabrik zu demontieren. Dazu brauchte man auch einige hundert deutsche Kriegsgefangene. Die riesigen Drehöfen waren zu zerlegen – ich bin sicher, dass sie die nie wieder zusammen bekamen. Ich hatte hier Dienst in der russischen Küche zu leisten, daneben war es meine Aufgabe, für die Lagerküche die Kartoffeln zu beschaffen. In den Dörfern mit größerem Kartoffelanbau wurden die Mieten geleert. Bei diesen Fahrten kam ich auch im August mehrfach nach Christinenberg, ein damals völlig menschenleeres, totes Dorf. Bis nach Belgard wurde gefahren, um Mehl aus deutschen Vorräten zu holen.

 

Als Entlohnung für die Zivilarbeiter gab es Besatzungsgeld, das war hier völlig wertlos, hat mir später jedoch ein wenig geholfen – gleichzeitig war es auch ein Schritt mehr zur Inflation.

 

In der Nähe der Zementfabrik verlief die Hauptstraße. Sie war gut zu beobachten. Was da ablief, war immer noch das alte Bild: Herden von Pferden und Kühen wurden gegen Osten getrieben, „Herden“ von Deutschen zogen westwärts. Alle Orte im Hinterland der Oder wurden systematisch von Deutschen „gereinigt“, ethnisch gesäubert, um ein politisches Argument zu haben: „Es sind keine Deutschen mehr im Land“. In großer Hektik schleppte man Ukrainer und Polen aus anderen Gegenden herbei, um schnell vollendete Tatsachen zu schaffen.

 

Es wurde ausgetrieben und geplündert, gleich  ob die Miliz dabei war oder nicht, die schaute einfach weg. An den Straßenrändern von Finkenwalde und Podejuch standen die kriminellen Gestalten und schauten nach Beute unter den Vertriebenen aus. Ein Sprung und sie verschwanden mit einer Tasche, einem Köfferchen.

Erst Anfang August, das Getreide war reif, änderte sich das Bild auf den Straßen, jetzt brauchte man Arbeitskräfte. Vor der Oder wurde nun sortiert, die Arbeitsfähigen kamen am nächsten Tag zurück. Um die Familie nicht vollends zu zerreißen, blieb für viele nur die Möglichkeit einer gemeinsamen Rückkehr in das nun für die Deutschen zum Gefängnis gewordenen Pommernland. Es war der Höhepunkt eines menschenverachtenden Handels, drei Monate nach Ende des Kriegs – und die Welt schaute weg. Trotzdem blieb das Getreide zum größten Teil auf dem Halm stehen und verfaulte – während zur gleichen Zeit auf der anderen Seite der Oder der Hunger und der Typhus in den Notaufnahmelagern seinen Einzug hielt.

 

Ende August war der Auftrag des russischen Kommandos erfüllt. Die Zementfabrik war abgebaut. Die Einheit sollte aufgelöst werden. Um uns Zivilarbeiter nicht nochmals in die Hände der Polen fallen zu lassen, wurden wir über die Oder gefahren und hinter Stettin abgesetzt. Endstation war das Flüchtlingslager Ückermünde. Neben einer Wassersuppe gab es pro Tag 200g nasses, klebriges Brot – Infektionskrankheiten breiteten sich aus.

 

Unser Pommernland war in fremder Hand. Wer denkt heute schon daran, dass die Vertreibung der ostdeutschen Bevölkerung schon 1848 auf dem Panslawistischen Kongress in Prag für die nächsten 100 Jahre als Zielvorstellung propagiert wurde? Pommern war „befreit“ – von den Deutschen – oder das „Wiedergewonnene Westgebiet“, wie die Polen behaupten. Diese Propagandalügen wurden nicht nur von den Kommunisten, Nationalisten, sondern gerade auch von der katholischen Staatskirche Polens verbreitet. So wird der untaugliche Versuch unternommen, das Jahrhundertverbrechen der Vertreibung – ein Nachkriegsverbrechen – und den größten Landraub unserer Geschichte zu bemänteln, ja zu rechtfertigen.

 

Den vertriebenen Pommern blieb nur die Erinnerung und die Sehnsucht nach der alten Heimat – und ein harter Existenzkampf in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in einem demontierten, geteilten, besetzten und  zerbrochenen Deutschland. 

 

Dieser Beitrag wurde geschrieben, um den leider üblichen Verfälschungen und Verharmlosungen des Vertreibungsgeschehens als „Wanderung“, Bevölkerungstausch“, „Bevölker­ungs­transfer“ oder „Umsiedlung“ die erlebte Wirklichkeit entgegenzustellen. Gleichzeitig soll die junge Generation damit an den Leidensweg ihrer pommerschen, sowie ihrer ost- und sudetendeutschen Vorfahren  erinnert werden.

 

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